Michael Tillmann


Die Gebete der Kriegspriester

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Ein Szenario, welches den roten Faden der Weltgeschichte darstellt: Schwarzer Rauch zog über das Feld einer absurden Schlacht; die Schwerter, Lanzen und Glieder zerbrochen; die Fahnen zerrissen; der Krieg vorbei. Nun mußte nur noch der Führer der unterlegenen Partei den neuen Herrscher offiziell anerkennen, die Papiere unterschreiben. Krieg ist Blut. Frieden ist Tinte?

Doch es machte sich das Gerücht breit, daß die Siechenärzte des untergegangenen Königreichs auf dem Schlachtfeld etwas gefunden hätten, was es dem geschlagenen König unmöglich machen würde, die abschließenden Verträge zu ratifizieren.

Zwar würde eine solche Weigerung seinen Tod bedeuten, aber der Monarch glaubt, mehr verlieren zu können als nur sein armseliges Leben. Denn er sah seine Seele in Gefahr, wenn er wißendlich einen Vertrag mit einer Partei unterzeichnen würde, die scheinbar mit dem Feind Gottes in Verbindung stand. Die Ärzte hatten nämlich mit zitternden Zungen kaum hörbar geflüstert, daß sie dort unter all den blutüberströmten Leichen und abgetrennten Glieder auch Körperteile gefunden hatten, die weder von Menschen noch von irgendwelchen Tieren stammten: blasphemische Bestandteile von unvorstellbaren Kriegern, die nur der Tiefe der Hölle entsprungen sein konnten.

Dammas der Siegreiche betrat das große Zelt. Sein wertvolles Kettenhemd klierte nicht, da die feinen Kettenglieder durch Unmengen von geronnenem Blut steif geworden waren, so wie aus süßen Teig festes Brot wird. Sein Gefolge bestand aus zwei waffenstarrenden Leibwächtern und einem Henker mit feuerroter Maske und einer schwergewichtigen Axt. Dieser blieb im Eingang der Unterkunft stehen, stellt sich breitbeinig hin und stütze sich auf sein monströses Werkzeug auf. Ein Könner der Pose. Ein begnadeter Schauspieler unter den Handwerkern.

"Ich sehe, daß Eure hochwohlgeborene Exzellenz leider immer noch nicht unterschrieben hat", stellte Dammas der Siegreiche nüchtern fest. Woraufhin der Henker leise hüstelte, um dann aber sofort wieder zu verstummen. Es war nicht des Künstlers erste Aufführung. Gewiß nicht...

"Ha, die Niederlage einer ehrlichen Schlacht könnte ich sicherlich eingestehen, aber ich würde meine gefallenen Ritter unsäglich beleidigen, wenn ich dieses satanische Gemetzel anerkennen würde", antwortete König Gustav laut und trotzig. Dann spuckte er auf den Boden.

"Meine hochgeschätzte Exzellenz, ihr kennt doch die diplomatischen Geflogenheiten: Dieser Vertag ist nur eine bloße Formalität, um Euer Leben zu schonen. Wie spielen das Spiel, daß die windigen Knechte aller Höfe Politik nennen. Ich will den Völkern der Welt damit zeigen, daß ich ein gnadenreicher Herrscher bin. Bin ich nicht?"

"Niemand wird das jemals glauben! Sie wissen, daß ihr ein verdammter Teufel seit. Sie wissen, daß Dämonen Eure Waffen führten. Man kann die Nachricht nicht mehr aufhalten. Von Ohr zu Ohr wird sie mit warmem Atem getragen werden. Sie wird alle Ländergrenzen und Stände überwinden. Auch die Knechte haben Ohren und ein Herz in der Brust."

"Kolportage! Jämmerliche Kolportage! Was interessiert mich das?"

"Gerade noch habt ihr anders gesprochen! Ihr strebtet nach Sympathie. Was aber haben die Menschen von uns erwartet, Dammas? Ich sage Euch: Die Völker wollten einen gerechten Kampf!"

Dammas setzte sich auf einen Stuhl. Krümel des geronnenen Blutes fielen zu Boden. Er lief sich ein Glas Wein bringen. Nachdem er genußvoll getrunken hatte, fragte er König Gustav: "Und wenn Euch die Engel geholfen hätten? Wäre das denn gerecht gewesen?"

"Uns haben die Engel nicht geholfen!"

"Ach, hat Eurer Gott Euch also alleine gelassen in dieser Schlacht?"

König Gustav schwieg.

Aber Dammas fragte erneut: "Wenn - ich sage hier extra "wenn" - Euch die Engel Eures ach so geliebten Gottes geholfen hätten, wäre das gerecht gewesen? Wäre das ein fairer Kampf gewesen?"

König Gustav befragte sein klopfendes Herz und antwortete: "Nein, es ging um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Menschenvölker. Es war eine weltliche Angelegenheit. Ihr habt das Wort schon benutzt: Politik. Wenn uns also die Engel geholfen hätten, so wäre das auch nicht fair gewesen. Weder Engel noch Dämonen sollten sich in solche Kämpfe einmischen! Ich kann Euch nicht widersprechen. Ja, ihr habt recht: Auch das Eingreifen von Engeln wäre nicht fair gewesen!"

"Aber haben Eure höchsten Priester denn nicht gebetet, der Himmel und seine Heerscharen mögen Euch beistehen? Haben sie den nicht die Schwerter und Lanzen gesegnet? Habe ich denn nicht über das weite Feld die heiligen Glocken Eurer Messe gehört? Sind die Choräle nicht in der Morgensonne mit dem Wind über die Äcker gezogen? Und habt ihr nicht auch mitgesungen, meine Exzellenz? Hörte ich nicht Eure Stimme besonders laut?"

"Ja, aber..."

"Still! Kein "Aber", König Gustav! Nein, kein "Aber" mehr! Religion ist wie Politik: überall findet man ein "Aber" zur rechten Zeit. Das "Aber" als Schlüssel zum Hintertürchen. Ich kann es nicht mehr hören. Es gibt heute keine Entschuldigung, keine Rechtfertigung. Meine Exzellenz, wir haben mit gleichen Mitteln gekämpft!"

"Ihr gebt also zu, daß Ihr den Satan angerufen habt, um Waffenbrüder zu erhalten, die nicht von dieser Welt sind?"

"Ich sagte schon: Wir haben mit gleichen Mitteln gekämpft!"

Dammas hielt König Gustav einen Becher mit Wein hin. Doch der "Gast" lehnte angewidert ab. Da lachte Dammas: "Ihr, mein gottesfürchtiger Mann, glaubt immer noch, daß Ihr etwas Besseres seit, was?"

König Gustav antwortete nicht. Ein letzter Rest von Stolz versteinerte sein bärtiges Gesicht. Er wollte nicht wahrhaben, daß seine Gebete eine Sünde gewesen waren. Und er wollte nicht wahrhaben, daß Gott sie mißachtet hatte. Seine Kehle war trocken. Sein trockenes Schlucken war das einzige Geräusch in der Stille.

Plötzlich rief Dammas laut nach hinten: "Bringt die Säcke herein!"

Der schwergewichtige Henker trat zur Seite. Eine sehr elegante Bewegung. War er auch Tänzer?

König Gustav blickte zum Eingang. Da wurden zwölf große Säcke, aus denen Blut tropfte, von vierundzwanzig muskulösen Männern ins Zelt getragen.

Dammas lachte und befahl: "Schüttet sie vor die Füße dieses gerechten Mannes, damit er die Wahrheit erkenne!"

Während die Diener die schwere Last vor König Gustav ausschütteten, sprach Dammas beim Verlassen des Zeltes: "Oh, ich kann Euch geruhigen: Euer Gott hat Eure kriecherischen Gebete erhört!!! Euer Gott hat alles versucht, was in seiner Macht stand, ha, ha!"

Der Henker blieb vor Ort. Er erhob zum ersten Mal das Wort: "König Gustav, schaut und versteht! Es wird Euer Leben retten! Ich bin faul. Töten ist anstrengend."

König Gustav schaute sich die Leiberreste vor seinen Füßen an, zögerte, wollte nicht verstehen, verstand jedoch und weinte schließlich, als er die goldenen Locken, die wunderschönen aber leider gespaltenen Gesichter, die geschlechtslosen Unterleiber und die zerstückelten, silbernen Flügel erblickte, die dort vor seinen verdreckten Stiefelspitzen lagen. Der Blutgeruch war irgendwie honigartig.

Als der König keine Tränen mehr hatte, trank er den roten Wein des Siegers. Er schmeckte bittersüß. Trotzdem fühlte er sein Glas immer und immer wieder. Dann griff er sich an die Brust und riß das goldene Kreuz ab und warf es auf die Leiber der gefallenen Engel. Es glühte kurz grell auf wie eine sterbende Sonne.

Der Henker nickte, verließ das Zelt und trat in die Nacht hinaus. Beim Heraustreten nahm er seine Kapuze ab. König Gustav schaute den dargebotenen Hinterkopf. Ein mächtiges, liedloses Auge mit violetter Iris blickte ihm an. Dann schloß sich der samtene Vorhang des Zeltes.

Der Gefangene blickte erneut auf die Engel. Die Verwesung schritt nun unnatürlich rasch voran. Die trockenen Lippen wichen von wunderschönen Perlmutzähnen zurück. Die liebreizenden Augen kullerten aus den Höhlen. Weihrauchartige Gase stiegen aus diesen neuen Körperöffnungen empor.

Der König hielt sich ein Taschentuch vors Gesicht.

Schließlich nahm er den Federkiel, taucht ihn in die nachtschwarze Tinte und unterzeichnete das Pergament. Seine einzige Empfindung war ein Gefühl absoluter Gleichgültigkeit.

Was bedeutet schon die Seele, wenn Gott so ein Schwächling ist?



© 2002 Michael Tillmann; Erstveröffentlicht in FANTASIA Nr. 164, Erster Deutscher Fantasy Club (Hg.), Passau 2003. [ISBN 3-932621-60-3]

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